Schwankende Gestalten
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten
die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt
versuch ich wohl, euch dies Mal festzuhalten
fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt
Ihr drängt euch zu, nun gut, so mögt ihr walten
wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt
mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert
Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage
und manche liebe Schatten steigen auf
gleich einer alten, halb verklungenen Sage
kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf
Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
des Lebens labyrinthisch irren Lauf
und nimmt die Guten, die um schöne Stunden
vom Glück getäuscht vor mir hinweggeschwunden
Sie hören nicht die folgenden Gesänge
die Seelen, denen ich die ersten sang
zerstoben ist das freundliche Gedränge
verklungen, ach, der erste Widerklang
Mein Leid ertönt der unbekannten Menge
ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang
und was sich sonst an meinem Lied erfreut
wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreut
Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
nach jenem stillen, ernsten Geisterreich
es schwebet nun in unbestimmten Tönen
mein lispelnd Lied der Äolsharfe gleich
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen
das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich
was ich besitze, seh ich im Weiten
und was verschwand, das wird zu Wirklichkeiten
Ihr naht euch wieder, ihr naht euch wieder...
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Prolog)